Deutsch und Welsch
Biel als eine an der Grenze zwischen den Burgundern und Alemannen errichtete Stadt mußte von Anfang an dem Einfluß der deutschen und französischen Sprache ausgesetzt sein. Die heutige Sprachgrenze deckt sich ja noch heute mit einigen wenigen Abweichungen mit der noch auf die Zeit der Völkerwanderung zurückgehenden burgundisch-alemannischen Grenze. Freilich blieb das Land zwischen den Juraseen und dem Aaregebiet bis hinab zur Einmündung der Emme erst noch geraume Zeit unbesiedelt. Und beide Völkerstämme errichteten auf den beidseitig die Ebene einschließenden Höhenzügen feste Verteidigungsstellungen, deren Erdburgen und Wälle vielerorts noch heute nachzuweisen sind. Der Grund, warum sich hier zwischen Jura und Mittelland lange Zeit eine Art Niemandsland (Uechtland) keilförmig zwischen die beiden Völkerstämme eingeschoben hatte, lag nicht nur darin, daß diese Ebene stetsfort großen Ueberschwemmungen ausgesetzt war, die deren Besiedlung und Bebauung erschwerten, sondern auch in der Tatsache, daß Burgunder und Alemannen einander mieden, weil sie schon in viel früherer Zeit, als sie erst nebeneinander an der Weichsel, dann an der Oder und zuletzt noch vor ihrer Landnahme am Mittelrhein durch andauernde Fehden entzweit waren.
Die Stadt Biel war der westlichste deutsche Vorposten an der Jurafußlinie, aber die Tatsache, daß der umliegende Landadel, wie die Herren von Courtelary, Tavannes, Orvin, Diesse, Nods, Colombier und noch viele weitere in Biel Ausburger wurden, zeitweise sogar in der Stadt Wohnsitz nahmen, und der Umstand, daß Biel im französischsprechenden St. Imrnertal (Erguel) das Mannschaftsrecht ausübte, und daß ursprünglich auch Neuenstadt und der Tessenberg unter das Meyertum und die Jurisdiktion Biels gehörten, brachte es naturgemäß mit sich, daß schon frühe in Biel beide Sprachen gesprochen wurden, doch war die Amtssprache immer deutsch, nur die Urkunden und Korrespondenzen mit dem Erguel wurden in französischer Sprache abgefaßt.
Diese Zweisprachigkeit brachte es auch mit sich, daß jeweilen bei der Wahl der Stadtschreiber die mündliche und schriftliche Beherrschung beider Sprachen Voraussetzung war. Trotzdem mußten sich durch alle Jahrhunderte hindurch die französischen Personennamen eine willkürliche Verdeutschung gefallen lassen. So werden in den Ratsprotokollen und Urkunden die
Marchand - Martschan geschrieben,
die Jean Pierre Tschampirri, die Jacquet werden als Tschagketten, Tschakkete oder sogar Tscheke aufgeschrieben.
Die Wionet werden zu Wyenet, später zu Weyeneth,
ein Jean Bourquin, der im Erguel für den Pavierzug ausgehoben wird, heißt im Mannschaftsrodel Tschan Borquin, dann auch Borckin und gelegentlich sogar Borki.
Ein Pierre Nicoud, der als Nicco ausgehoben und in der Schlacht von Pavia erstochen worden war, hieß in der nach Hause gesandten Verlustliste des Bieler Hauptmanns bereits Peter Niggu.
Die Taillon von Schernelz ob Ligerz verdeutschten ihren Namen in Thellung,
die Grosjean schrieben ihren Namen Groschang,
die aus der Umgebung von Bellelay stammenden Niejehan werden in Biel zu Nieschang, und als sich 1632 ein Zweig dieser Familie in Bern einburgerte, nannten sie sich Niehans.
Unverändert sind natürlich die deutschen Familiennamen geblieben, unter denen wir gelegentlich recht bodenständige Namensformen finden wie Brotkorb, Kobolt, Drühar, Manslib, Blindmann, Dürrimüli, Rebstock, Ebenacker, Gutentag, Uebelriff, Unzytig, Westerholz, Müntschi, Rechberg, Küng, zum Krebs usw., alles Namen von Familien, die längst ausgestorben sind. Die welschen Familien, die gelegentlich aus dem Erguel oder vom Tessenberg nach Biel kamen, um sich hier niederzulassen, nahmen schon bald, spätestens in der zweiten Generation die deutsche Sprache an. Trotzdem bestand seit dem 17. Jahrhundert in Biel ein von einem welschen Pfarrer betreuter Gottesdienst, dem die 1619 an Stelle einer alten Kapelle errichtete Siechenkirche halbwegs zwischen der Stadt und Bözingen zur Verfügung gestellt wurde. Als 1798 von den Franzosen die Burger- und Kirchengüter versteigert wurden, erwarb Burgermeister Moser die Siechenkirche und ließ sie 1810 abbrechen, worauf der französische Gottesdienst in die Stadtkirche verlegt wurde, bis die mittlerweile stark gewordene französische Kirchgemeinde im Jahre 1903 im Pasquart eine eigene neue Kirche erhielt. Die Zeit der Zugehörigkeit Biels zu Frankreich vermochte weder das Schul- noch das Kirchenwesen Biels irgendwie zu beeinflussen, es sei denn, daß bei beiden ein wahrnehmbarer Rückschritt festgestellt werden mußte, weil sich die Interessen des französischen Staates in Biel lediglich auf Requisitionen, Besteuerung und Rekrutierungen für die große Armee erstreckten.
Die Anfänge der wirklichen Zweisprachigkeit der Stadt setzten erst mit der Mitte des letzten Jahrhunderts ein, als Biel Sitz der Uhrenindustrie wurde, und sich je nach dem momentanen Geschäftsgang stoßweise zahlreiche Uhrenmacher mit ihren Familien aus dem St. Immertal und den neuenburgischen Bergdörfern La Chaux-de-Fonds und Le Locle nach Biel verzogen, um hier dauernd Wohnsitz zu nehmen. Die dadurch bedingte starke Zunahme der französischsprechenden Bevölkerung hatte zur Folge, daß am 10. Juli 1860 der Gemeinderat auf ein Gesuch des französischen Pfarrers Cunier beschloß, je eine französische Knaben- und Mädchenklasse zu schaffen. Seitdem hat sich die französische Schule in Biel stark entwickelt, und heute weisen sämtliche Schulen deutsche und französische Klassen auf.
Biel ist die einzige Schweizerstadt, in welcher sich beide Sprachen der Gleichberechtigung erfreuen, während im zweisprachigen Freiburg nur das Französisch als Amtssprache gilt. Das Stärkeverhältnis beider Sprachen mag aus folgenden Zahlen abgelesen werden:
Im Jahre 1860 zählte Biel bei einer Bevölkerung von 8761 Seelen 83,7 % Deutsch-,
16,2 %Französisch- und 1% Italienischsprechende.
Nach der letzten Volkszählung von
1950 waren bei 48 400 Seelen 66,7 % Deutsch-, 30 % Französisch- und 2,7 % Italienischsprechende.
Aus diesen Angaben geht hervor, daß sich das welsche Element stärker entwickelt hat als das deutsche. Die größte Zunahme entfiel auf die Jahre 1880- 1888, als die welsche Bevölkerung sich um 67 % vermehrte, indem ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung von 19,3 auf 25,4 % stieg, während die Deutschsprechenden von 79,9 auf 73,6 % zurückgingen. Seit dem Jahre 1900 ist die welsche Bevölkerung von 8373 auf 14‘532 Seelen angewachsen, d. h. von 28,3 auf 30 %
Zweisprachigkeit mag für ein Gemeindewesen in gewissem Sinne als ein Vorteil bewertet werden, während andererseits durch sie die große Gefahr entsteht, daß die Reinheit beider Sprachen darunter leidet. Letzteres ist in Biel in besonderem Maße der Fall, da die Uhrenindustrie es mit sich bringt, daß auch der Deutschsprechende eine große Zahl französischer Fachausdrücke in seinen Sprachschatz aufnimmt und sich nur zu leicht verleiten läßt, auch andere Ausdrücke aus der französischen in seine Muttersprache hinüberzunehrnen. Während in der Regel der deutschsprechende Bieler die Tendenz hat, die Vorteile der Zweisprachigkeit auszunützen, indem er gerne die Gelegenheit wahrnimmt, sich in der ihm weniger geläufigen Sprache auszudrücken, meidet der Französischsprechende nur zu gerne den Gebrauch der deutschen Sprache, indem er sich ihr gegenüber eher ablehnend verhält. Diese Stellungnahme rührt zum Teil daher, daß die Welschen eigentlich zwei verschiedene Sprachen lernen sollten: Mundart und Schriftsprache.
Diese Ausführungen über die Sprachverhältnisse waren unvollständig, wenn wir nicht erwähnen würden, daß Biel noch bis zur letzten Jahrhundertmitte seine eigene Mundart besaß, das «Bieldytsch››, das zu jener Mundartgruppe gehörte, die sich einst vom Elsaß bis zum Murtensee erstreckte. Diese alte Mundart Biels ist den politischen, wirtschaftlichen und verkehrstechnischen Umgestaltungen zum Opfer gefallen. Die Zuteilung der Stadt an den Kanton Bern, die stets zunehmende Niederlassung französischsprechender Jurassier und die damit verbundene Wandlung der kulturellen Struktur, dazu in besonderem Maße der Anschluß der Stadt an das rasch sich entwickelnde Eisenbahnnetz und nicht in letzter Linie der starke Rückgang der burgerlichen Bevölkerung sind die Hauptmomente, welche die einheimische Mundart so stark in Vergessenheit fallen ließen, daß Prof. H. Baumgartner darauf hinweisen konnte, daß bis heute keine andere Ortschaft und Landschaft der deutschsprachigen Schweiz in so kurzer Zeit ihre Sprache in so durchgreifender Weise geändert habe. Pfarrer Adam Friedrich Molz (1790 - 1879) hat in seinen Gedichten dieser Mundart ein einzigartiges Denkmal gesetzt. In klarer Erkenntnis, daß die alte Sprache Biels in kürzester Zeit aussterben werde, hat er nicht ohne einen resignierenden Unterton, gleichzeitig aber mit stark ironisch-satyrischem Einschlag in bescheidenen Versen, die bewußt keinen Anspruch an dichterische Qualitäten erheben, und die er selbst als Knittelverse bezeichnet, Ereignisse und Zustände Biels aus dem letzten Jahrzehnt des 18. und aus dem Beginn des 19. Jahrhunderts festgehalten.