Der Osterstier wird umgeführt
Im Gebiet zwischen der bernisch-solothurnischen Grenze und dem äussersten Westen des Waadtlandes wurde seinerzeit der Osterstier feierlich durch die Dörfer geführt. Bis hinunter nach Genf fand sich der Brauch, selbstverständlich auch im nähern Freiburgbiet, und hinauf bis an die beiden Oberländerseen, vereinzelt auch an andern Orten. Wir haben uns im «Atlas der Schweizerischen Volkskunde» auf der Karte I/32 orientiert, wo die Beleg-Orte sich säuberlich eingetragen finden. Wer diese Karte sorgfältig studiert, wird zu seinem Staunen entdecken, dass die Umzüge mit dem Osterstier im Gebiet westlich von Niederbipp bis an den Genfersee zu den bekannten Erscheinungen gehörten. Wie Inseln finden sich dann noch Orte am Vierwaldstättersee und im St. Gallischen.
«Der Osterstier gehörte zu den Hauptstücken der Osterumzüge, wie sie ehemals in Bern und Umgebung mit grossem Gepränge stattfanden» berichtet E. Hoffmann-Krayer 1913. «Den Grundstock des Zuges bildeten gewöhnlich die Metzger in schmucker, roter Tracht, mit ihren Osterochsen»
Die Lustbarkeiten, welche sich an die erwähnten Osterumzüge seinerzeit anschlossen, hatten etwas durchaus Fastnächtliches an sich, wie ein Bericht aus Bern erkennen lässt.
«Am Donnerstag nach Ostern 1820 zog die jungmannschaft von Bolligen pomphaft in Bern ein; voran eine türkische Musik und der landesübliche Mutz, dann Geharnischte, der Tell mit seinem Knaben, die alten Kantone, hunderterlei Gestalten zu Ross und zu Fuss, Gessler mit Gefolge, ein Hanswurst, 20 Paare Tänzer mit Reifen und ein Wagen mit Fass, auf dem Bacchus rittlings sass»
Wohl die wichtigste Gruppe in diesem Umzug waren die Metzger mit dem festlich geschmückten Osterstier.
Der efeubekränzte, zum Schlachten bestimmte Ochse wurde von den Metzgern feierlich durch die Gassen geführt, um den Leuten den Mund wässerig zu machen, ihnen zu zeigen, welche Leckerbissen ihrer harrten. Wir sind aber überzeugt, dass die Wurzeln des Brauches tiefer liegen. Der Umzug fiel mancherorts auf das Ende der Fastenzeit, und der gemästete Stier versinnbildlichte den freudigen Zeitpunkt, da man wieder festlich pokulieren und essen durfte. Wie viele alte Bräuche, so scheintmir auch der Umgang mit dem Osterstier noch viel weiter zurück zu reichen bis in die vorchristliche Zeit. Der fette Ochse stellt das Opfertier dar, welches den Gläubigen vor der Opferung gezeigt wurde.
Wann der schöne Brauch verschwunden ist, lässt sich nicht mehr feststellen. Hingegen wurde in den Fünfzigerjahren dieses Jahrhunderts ein Versuch gemacht, den alten Metzgerbrauch wieder aufleben zu lassen, allerdings ohne des tieferen Sinnes dieser Überlieferung gewahr zu werden. In einer seither verschwundenen Bieler Zeitung stand im April 1953 aus Lyss folgender Bericht über den löblichen Versuch:
«Es war zu allen Zeiten so, dass unsere Metzgergilde auf die Ostertage hin ihrer Kundschaft besondere kulinarische Spezialitäten bereitgehalten hat. Der Konsument weiss es zu schätzen, wenn er in reicher Auswahl erstklassige Qualitäten angeboten erhält. Zu den örtlichen Besonderheiten zählte von jeher das Schlachten eines ausgemästeten Osterochsen, wobei es Brauch und Sitte war, diesen Ochsen blumen- und efeugeschmückt durch die Ortschaft dem Metzger zuzuführen. Gwundriges jung- und Altvolk begleitete solche Aufzüge und für Bauernknechte und Metzgerburschen gab es an solchen Tagen dann noch ein besonderes Festchen.
Letzter Tage nun lebte in Lyss dieser alte, originelle Brauch neu auf. Zwei Pracht Stiere aus den Ställen des seeländischen Verpflegungsheims Worben, jeder rund eine volle Tonne Lebendgewicht präsentierend, sind als imposante Osterochsen im reichen Blumen- und Efeuschmuck durch die Ortschaft der Metzgerei Alfred Hänni zugeführt worden und haben allenthalben berechtigte Bewunderung gefunden.»
Nach dem Jahre 1953 sind wohl im Seeland keine Osterstiere mehr umgeführt worden. Der Brauch verschwand sehr rasch, da auf der Strasse neben der kaum mehr abreissenden Blechschlange kaum Raum mehr blieb für unberechenbare Tiere.