Sinn der Flurforschung

Die Weltgeschichte, die wir erforschen, lehren und lernen, besteht aus den bemerkenswerten Taten der Völker und einzelner Menschen: Reichsgründungen, Rechtsetzungen, Kriegen und Friedensschlüssen, Spitzenleistungen der Kunst und Architektur, in neuerer Zeit aus technischen Leistungen, Industrie, Arbeiterbewegung und Streiks. Unter dieser «grossen Geschichte», die sich doch nur an der Oberfläche bewegt, läuft stetig und unauffällig die Geschichte der unzähligen Millionen anonymer Menschen, welche seit Jahrtausenden die Felder bestellten und Brot gaben. Diese Geschichte hat sich nur ausnahmsweise in Dokumenten niedergeschlagen; kaum dass wir um die grossen Nöte, Missernten, Teuerung und Krisen wissen. Nichtsdestoweniger ist die Geschichte der Dörfer und Fluren vielleicht die wahre Geschichte der Menschheit. Denn sie ist während Jahrtausenden die Geschichte des weitaus grössten Teils der Menschen gewesen. Die «grosse Geschichte» betrifft sogar in ihren intensivsten Teilen nur verhältnismässig wenige. Wenn Reiche aufstiegen und zerfielen, wenn sich die Grossen in Herrschaft und Macht ablösten, lief die Geschichte der Dörfer und Fluren weiter. Sogar wenn Kriegszüge das Land verheerten, trug die Flur im nächsten Jahre wieder Frucht, und wenn Herrschaft und politische Verfassung wechselten, bestellten die Bauern ihre Felder wie zuvor. Nur ausnahmsweise haben politische Veränderungen, so im 19. Jahrhundert, auch das Antlitz der Flur verändert.

Trotzdem ist die Geschichte der Felder und Dörfer nicht statisch. Man hat ihnen in Unkenntnis des Geschehens allzu grosse Stabilität beigemessen. Doch ist die Geschichte der Dörfer und Feldsysteme nicht zwangsläufig mit der grossen Geschichte der Politik und der Kriege gekoppelt, sondern folgt eigener Gesetzmässigkeit. Noch herrscht vielerorts die Vorstellung, die Rodung des Waldes zur Gewinnung von Kulturfläche sei ein kontinuierlicher Vorgang gewesen, der Wald sei stetig zurückgegangen bis zum heutigen Tag, die Zahl der Siedlungen habe sich stets vermehrt, die unter den Pflug genommene Fläche stets vergrössert. Die moderne Flurforschung lässt, freilich erst in vagen Konturen und einzelnen Untersuchungen, erkennen, dass die Entwicklung der ländlichen Siedlung und der Produktionsflächen im Laufe der Jahrhunderte ein langsames Auf und Ab war. Auf jahrhundertelange Perioden der Expansion folgten Perioden der Schrumpfung und des Vorstossens des Waldes. Auf Zeiten rascher Bevölkerungsvermehrung folgten Zeiten der Stagnation oder der Bevölkerungsschrumpfung. Auch die Siedlungen selbst waren nicht stabil. Die Behausungen in Block- oder Ständerbau waren demontierbar und konnten an einen andern Standort versetzt werden. im mittelalterlichen Recht gehörten Haus, Scheunen und Ställe nicht zu den Liegenschaften, sondern zur Fahrhabe. Hausversetzungen kamen auch im Amt Erlach nachweislich vor und sind im Wallis bis in die jüngste Zeit zu belegen. Dörfer, Weiler und Einzelhöfe sind keine uralten, sich in «grauer Vorzeit» verlierenden unabänderlichen Siedlungssysteme. Einzelhöfe und Weiler konnten zu Dörfern Zusammenwachsen, und Dörfer konnten sich wieder in Streusiedlungen und Einzelhöfe auflösen.

Damit wird die Erforschung der bäuerlichen Siedlungen und Feldsysteme zu einem geradezu spannenden Gegenstand. Es gilt nicht nur, die Wandlungen zu erkennen, sondern in einem ferneren Zeitpunkt vielleicht auch deren Ursachen zu erfassen, die in Veränderungen der Wirtschaftsstruktur, in Klima, in Krisen, Seuchenzügen, sogar in geistesgeschichtlichen Wandlungen und schliesslich zu einem Teil auch in Kriegen und politischen Vorgängen liegen können.