Die Laternenanzünder

Es gibt Berufe, die so plötzlich und geräuschlos aussterben, daß man ihr Verschwinden nicht einmal bemerkt.Wem wäre es beispielsweise eingefallen, nachzuforschen, ob noch ein Rößliträmler lebt?

Man nahm zu meiner Jugendzeit eines Tages mit viel Lärm und hochgezogenen Augenbrauen Notiz davon, daßein rotes, elektrisches Tram durch die Stadt fuhr und weinte den Roßbollen, die bis anhin zwischen den Schienen lagen, keine einzige Träne nach. Nur Tante Frieda seligen Angedenkens erhob warnendden Zeigefinger, als am Bügel des Trams blaue knisternde Flämmchen aufblitzten, und sagte: «Gottogott, was fange ich nur mit meinen Geranien und Blumenzwiebeln an, wenn die Buben keinen Pferdemist zwischen den Schienen mehr auflesen können !»

Und nun gehört das elektrische Tram auch schon der Vergangenheit an. Spurlos sind die Schienen von der Straße verschwunden. Man fährt Bus und wird von den freundlichen Schaffnern belehrt,daß es irgendwo in einem verborgenen Winkel einen Knopf gibt, auf den man heimlich drücken muß, wenn man aussteigen will.

Im übrigen beginnen auch die ältern (und korpulenteren) Jahrgänge große Fortschritte in den Gleichgewichtsübungen zu machen, so daß es nicht mehr vorkommt, daß sie in der scharfen Kurve Nidaugasse-Dufourstraße plötzlich Fräulein Mimi am Busen liegen.

Doch nicht von der Gegenwart, sondern von der Vergangenheit soll ja die Rede sein, von jener Zeitspanne, die zwischen dem Rößlitram und der ersten elektrisch betriebenen Straßenbahn liegt.Es ist nicht auszusprechen, wie rasch diese Zeit vergangen ist. Man kommt sich beinahe vor wie Methusalem, und doch rauscht das Blut noch in den Adern wie in den üppigsten Flegeljahren.

Als ichunlängst in Biel Erinnerungen auffrischte aus der Zeit, da wir auf den Tramgeleisen noch Roßbollen sammelten und in der offenen Schüß Groppen fingen, da orakelte ein Jahrgänger: «Herrgott, inwelchem Jahrhundert sind wir denn eigentlich zur Welt gekommen? Noch ist mir, als müsse ich der lieben Mama das Korsett zuknöpfen und die Schnürschuhe binden, und schon fliege ich in dreieinhalb Stunden nach London. Paß auf, in zehn Jahren werden auch die Trolleybusse wieder ausrangiert, weil man für den Vorortsverkehr nur noch Helikopter benützt! Erinnerst du dich übrigens noch der lustigen Laternenanzünder?»

Richtig, auch so etwas gab es um die Jahrhundertwende ja noch in Biel. Männer, die sich vor Einbruch der Dunkelheit besammelten wie eine Rotte Soldaten, um auf Kommando, mit langen Stangen bewaffnet, ihre Runde anzutreten. Man lebte im Zeitalter des Gases. Auch für die Straßenbeleuchtung benützte man Gas.

Sogar die Aerzte und Zahnärzte benützten Gas zur Erhitzung ihrer Instrumente, von dem berüchtigten Gasbadofen gar nicht zu reden, dessen Bedienung mit Lebensgefahr verbunden war, weil die «Stichflamme» nie richtig funktionierte.

Woraus die lieben, badesüchtigen Frauen und Töchter endlich schlußfolgern können, warum man eher eine Katze als einen Mann ins Wasser bringt. Männer in gesetztem Alter sind nämlich nicht von Natur wasserscheu und unrein, wie eine Amerikanerin unlängst behauptete, sondern sie fürchten die Badewanne, weil in ihrem Unterbewußtsein stets die gefährliche Stichflamme weiterlebt. Warum also baden, wenn man ohne das auch neunzig wird?

. ..Unter den besagten Laternenanzündern gab es einen von besonderem Zartgefühl. Sein Revier war der Pasquart. Sobald er - im Begriffe, die lange Stange hochzuheben und mit einem Ruck denHebel des Gashahns zu betätigen, um gleichzeitig mit der Stichflamme die Laterne anzuzünden - bemerkte, daß sich an den Laternenpfahl noch ein Pärchen klammerte, ging er weiter mit der Bemerkung: «Il ne faut jamais déranger les amoureux, ich zünde die Laterne auf dem Rückweg an !»

Aehnlich handelte er, wenn einer den Laternenpfahl umarmte, der es mit dem Twanner Sauser aufnehmen wollte. «Man muß ihm Zeit lassen», sagte der zartfühlende Laternenanzünder, «man muß ihm helfen. Wenn ich die Laterne auf dem Rückwege anzünde, ist es immer noch früh genug.»

_- «Eh-e-e-eh-bien›>, pflegte dann der Sauserfreund zu lallen, indem er geistesgegenwärtig einen Franken aus der Gilettasche hervorklaubte, «da-da-das ist für dich !» Es gab Zeiten, da der Menschenfreund unter den Laternenanzündern mit fünf Franken in der Tasche vom Pasquart heimkehrte. In lauen Maiennächten, wenn auch die Techniker, Gymeler und Sekundarschülerinnen (letztes Schuljahr) des Lenzes Rauschen spürten, brachte es unser Laternenanzünder sogar auf zehn Franken.

Die Pasquartallee aber blieb häufig bis gegen Mitternacht in tiefes Dunkel gehüllt. Dagegen stieg die Bevölkerungszahl in dieser Zeit von 15‘000 auf 25‘000 Seelen.

In der Morgenfrühe, sobald es zu tagen begann, wiederholte sich das Schauspiel in umgekehrter Reihenfolge. Wiederum erschienen die Laternenanzünder in den Straßen Biels, um mit ihren langenStangen den Gashahn abzudrehen.

Der letzte von ihnen, der sich erhob, war unser Menschenfreund vom Pasquart. Er hatte ja nicht viel zu tun. Die Laternen seines Reviers, die wirklich brannten,waren an den Fingern abzuzählen: diejenigen vor dem Spital, vor dem Pfarrhaus, vor dem Museum und vor dem Hause des Geschichtslehrers, der sogar den Laternenmann eines Abends mit derFrage bestürmte: «Wann war die Schlacht bei den Termopylen?».

Ob noch einer von diesen originellen Lichtmachern lebt? Es würde mich nicht wundern, nachdem ich erst kürzlich von einem Neunzigjährigen, nach dessen Beruf ich mich erkundigte, zur Antwortbekam; «Nachtwächter.»

Jahraus, jahrein habe er im Dorf die Stunde ausgerufen, Leute geweckt, Feueralarm geblasen und gleichzeitig - sozusagen in Privatauftrag - acht darauf gegeben, daß sich kein Mädchen unter zwanzig Jahren nach Einbruch der Dunkelheit noch auf der Straße herumtrieb. «Und diejenigen über zwanzig ?» fragte ich neugierig. «Ich ließ sie laufen und kassierte das übliche Schweigegeld im Nachttarif», erwiderte der Nachtwächter, «mit dem Nachtwächtergehalt allein konnte ich doch meine Familie nicht ernähren ….»