Ein alter Metzgetenbrauch: Der Wurstbrief
So vor rund 40 Jahren ist in unserem Dorf ein alter Metzgetenbrauch zum letzten Mal praktiziert worden: Das Schreiben eines Wurstbriefes oder Metzgetenzettels. Der Brauch gehört zu den vielen Heischebräuchen, von welchen die Volkskundler zu berichten wissen. Dabei handelte es sich darum, auf mehr oder weniger erfolgreiche Art bei andern Dorfleuten am Schlachttag Blut- und Leberwürste zu betteln, wobei es darum ging, die Identität des Bettelnden möglichst geheim zu halten. Der Wurstbrief ist eine Art Schnitzelbank, in welcher von einem ländlichen Verseschmied in mehr oder weniger kunstvollen Reimen alle am Schlachttag im Hause anwesenden Personen auf den Hut genommen wurden, vom Metzger bis zur Hausfrau. Alle dem Chronisten je unter die Augen gekommenen Wurstzettel waren sich sehr ähnlich, d.h. der Verfasser stützte sich auf früher geschriebene Moritaten anderer Verseschmiede. So wurde etwa der Metzger auf den Säbel geladen:
Der Metzger mit syne länge Schritte
Isch uf der Sou zum Stall us gritte.
Die Sou macht gnab,
Der Metzger gheit ab.
In einem Wurstbrief aus Büetigen wird er wie folgt auf das Korn genommen:
Dr Metzger, dä macht nid lang Gspass,
Er nimmt e Sparren und en Achs
U schloht sen öppe drümol z'tod.
Do gheit sie um, so i der Not.
Er sticht u sticht zum vierte Mol,
Do ischere afe nümme wohl.
Aber dänket, die verfluechti Moore,
Het no keis Tröpflí Bluet verloore.
Erwachsenen Töchtern wurde eine versteckte Liebeserklärung gemacht oder gar ein «Gschleipf›› ausgebracht, während den Söhnen Müsterli und Begebenheiten vom Tanzboden unter die Nase gerieben wurden. Der Vater erhielt einen Träf wegen des Mareis im <<Bären››. Ganz gross kam die Hausfrau an die Reihe wegen vergessener Einkäufe, fehlender Gewürze, eingekochten Wassers und so weiter.
Aber Tüfel, Tüfel, Tüfel!
My Alti het vergässe, dass ds Wasser
Dür die längi Guslete fasch ganz ygchochtet isch.
Potz Sappermänt, wie die Stälze gsprunge sy
Go z'bättlen i de Nochbarhüser:
Um Gottswillen und myni Chraft,
O gät is doch ou Wasserchraft,
Süsch gfriert is gwüss no üsi Sou!
O, hälfet und erbarmet euch doch ou!
Um ja kein «Gstürm›› heraufzubeschwören, zeigt der Chronist an einem Beispiel aus Oberwil, wie so ein Bauersmann durch die Hächle gezogen wurde:
Er het e Dägen i der Hand,
Wott hütt sys Söili stüpfe.
Doch sälber het er nid Gurasch,
Er mues uf Büre springe,
Um äxtra mit dem Delegraph
E Metzger zuche z”dinge.
U wiener zrugg churınt im Galopp,
Ar schwöre muess gar grüsli.
Sy Frou isch gwiiss no geng im Glosch
U steit so hingerem Hüsli.
Doch ändlich bringt ers du ids Greis
Und alls isch fertig, meint er,
Du springt er wiene jungi Geiss
Und über d'Schwelle gheit er.
Botz Himmel, tausig sapperment,
Was het du das nid chönne!
E roti Nase, dräckig Händ
Und obe druf no ds Wasserbrönne.
Ganz toube schlycht er du i Stall,
Für ds Söili usezfüere.
Doch d'Moore macht ihm ou Skandal,
Sie tuet ihm druspächiere.
Du ersch isch du der Tüfel los,
Mi brüelet, lachet, chäret.
Sie springe noche, chly und gross
Und ds Müeti, das het pläret.
Nicht alles, was in den alten Wurstbriefen steht, ist druckreif und auch durchaus nicht salonfähig, weshalb der Verfasser, viel Gewicht darauf legte, unerkannt zu bleiben. Doch gäb wie er sich Mühe gab, auch die Schrift zu verstellen, gelegentlich wurde er doch eruiert, besonders wenn er etwa unvorsichtigerweise das damals noch seltene Schreibpapier beim einzigen Krämer kaufte. Allerdings führte das trotzdem nur in ganz seltenen Fällen zu Gerichtshändeln.
Die Wurstbriefe wurden den Tafelnden beim festlichen Essen am Abend zugestellt, doch nicht durch die Post, sondern z.B. an einen Stein gebunden ins Zimmer geworfen. Mit mehr oder weniger Lärm unter der Türe durch in den Hausgang geschoben, an die Türfalle gebunden, ans Tennstor genagelt, dem Hunde um den Hals oder gar an den Schwanz gebunden. Findige Leute banden den Brief an eine Bohnenstange, die sie zur obern Küchentürhälfte hineinstreckten. Wer besonders stark auf die essbaren Herrlichkeiten erpicht war, band den Wurstzettel gar an ein Wassergätzi, das dann aus dem Dunkel zur Türe hineingestreckt wurde. Den Brief abzuschneiden und das Gätzi mit Würsten zu füllen, war die selbstverständliche Reaktion. Dass man Blut- und Leberwürste auch an die Bohnenstange binden oder ganz einfach zu einem Fenster hinausreichen konnte, versteht sich von selber.