Witzwil und der Berner Stadtkehricht
Die Ablagerung des Berner Stadtkehrichtes hat während vier Jahrzehnten das Gesicht des Witzwilgebietes mitgeprägt. lm Jahre 1908 trat die städtische Polizeidirektion Bern an die Leitung der Strafanstalt Witzwii mit dem Gesuche heran, sie möchte die Frage der Uebernahme des Berner Strassen- und Hauskehrichtes auf den Gutsbetrieb prüfen. Die Stadt musste für die Ablagerung ihrer Abfallstoffe neuen Raum schaffen, da die bisherigen Deponien, meistens alte Kiesgruben, der Autfüllung entgegengingen. ln Witzwil war man sich bewusst, dass die Uebernahme des Kehrichts eine Belastung des Anstaltsbetriebes mit sich bringen würde, und man verhielt sich deshalb eher zurückhaltend. Das Projekt wurde aber seitens der Regierung gefördert. Mit der Zusicherung einer vermehrten Einweisung von Gefangenen milderten sich zudem die Bedenken der Anstaltsleitung wegen der in Kauf zu nehmenden Mehrarbeit.
Am 3.Juni 1913 genehmigte der Regierungsrat des Kantons Bern den aus den Verhandlungen hervorgegangenen Vertrag zwischen der kantonalen Polizeidirektion als Oberbehörde der Strafanstalt Witzwil und der Stadt Bern. Danach übernahm Witzwil den gesamten in der Stadt Bern anfallenden Haus- und Strassenkehricht. Bei der Station Bern-Fischermätteli wurde für die Entleerung der städtischen Kehrichtwagen eine Verladeeinrichtung geschaffen. Die eigens konstruierten Eisenbahnkehrichtwagen gelangten via Ausserholligen mit der Bern-Neuenburg-Bahn täglich nach der Station Gampelen. Seit dem Jahre 1910 war die Anstalt Witzwil durch ein selbst erstelltes, 3.5 km langes lndustriegeleise mit Gampelen verbunden, was den Transport des Kehrichtes direkt auf das Anstaltsareal ermöglichte. Die Transportkosten Bern-Gampelen oblagen der Stadt, sie machten anfänglich 20, später 60 Franken je Wagen zu 12 Tonnen aus. Für das Ausladen und Reinigen der Wagen erhielt die Anstalt während der ersten Vertragsdauer von 20 Jahren eine Vergütung von Fr. 4.50, mit der Vertragsverlängerung vom Jahre 1932 erhöhte sich dieser Betrag auf 10 Franken.
Die jährlich zugeführte Kehrichtmenge schwankte zwischen 1200 und 1600 Wagen zu 12 Tonnen (zum Vergleich: Kehricht in der Gemeinde Bern 1973 = 45`000t und 500t Metallsperrgut). Das Ausladen des Kehrichts gehörte nicht zu den angenehmen Arbeiten. Man denke bloss an die Fliegen- und Mückenplage an schwülen Sommertagen oder an die Winterszeit, wenn die Bise übers Moos fegte und der Auslademannschaft den Berner Strassenstaub und andere <<Grüsse›› aus der Stadt ins Gesicht trieb. Deshalb ist es auf den ersten Blick erstaunlich, dass es nie Mühe bereitete, die benötigte Anzahl «Ghüderer›› zu finden. Es meldeten sich stets genügend Freiwillige in die Kehrichtgruppe, die jahrelang in vorbildlicher Weise von Aufseher Albert Traffelet geführt wurde. Weshalb war wohl die «Ghüderei›› gar nicht so unbeliebt? Zum Teil gehörten diese Spezialisten eben schon in der Freiheit als Lumpensammler und Altstoffhändler sozusagen zur Branche. Andere zog das Rauchen an, das den Kehrichtleuten während langer Zeit als den einzigen Gefangenen erlaubt war. Wieder andere schätzten die regelmässige, sich immer gleichbleibende Arbeit etwas abseits von den übrigen Anstaltsinsassen.
Erstaunen erregte auch immer wieder bei Hygienikern vom Fach wie bei Laien, dass unter den Gefangenen nie Krankheiten auftraten, die mit der Kehrichtübernahme in Bezug gebracht werden mussten. Vorab aus Gründen der Reinlichkeit bewohnte die Ausladeequipe ihre eigene vom Anstaltsgebäude räumlich getrennte Unterkunft. Hier polierten und putzten die Männer ihre Fundstücke, sie klebten die gefundenen Briefmarken in Alben ein, oder sie schnitten fein säuberlich die der <<Strassenwüschete›› entnommenen Zigarrenstummel zu begehrtem Schnittabak Die Kehrichtmannschaft hat aber auch manche Mutter und Hausangestellte von Angst und Sorgen befreit, wenn sie dank ihrer Findigkeit Geld, Wertsachen, Schmuckstücke und Löffel fanden, die irrtümlich in den Kehricht gelangt waren und nun an den Eigentümer zurückerstattet werden konnten, Viele dem Kehricht entnommene Dinge kamen aber auch dem Anstaltshaushalt und -betrieb zugute. ln erster Linie verdient all das brennbare Material Erwähnung. das in solchen Mengen anfiel, dass damit der für die Wäscherei, Schweineküche und Käserei benötigte Dampf erzeugt werden konnte.
Während vielen Jahren hat aber der Kehricht auch der Landwirtschaft in Witzwil Nutzen gebracht. lm ersten Weltkrieg musste wegen des Brennstoffmangels intensiv Torf gewonnen werden. lm Birkenhofgebiet entstanden durch die Torfausbeutung ausgedehnte, tiefe Seen. Alle diese Gruben sind mit Kehricht und den daraus entfernten Scherben und Blechbüchsen ausgefüllt worden. Bis zum Jahre 1915 war der Seestrand westlich des Weges vom Lindenhof nach La Sauge eine Wildnis voller Tümpel und mit Gestrüpp, Schilf und Gras bestanden. ln der Kriegszeit wurde dieses Land gerodet und mehrmals stark mit Kehricht gedüngt. Durch diese Humusanreicherung konnte der arme Sandboden in gutes Kulturland übergeführt werden, wo u.a. ausgedehnte Spargelpflanzungen bestens gediehen.
Mit der Zeit ergaben sich aus der Uebernahme des Stadtkehrichtes Schwierigkeiten, die der Anstaltsleitung von Witzwil eine Kündigung des Vertrages nahelegten. Einmal verringerte sich der Wert des Kehrichtes zusehends, was u.a. mit der Abnahme der Pferdegespanne bzw. des Pferdemistes in der Stadt zusammenhing. Demgegenüber nahm der Schlacken- und Papieranteil von Jahr zu Jahr zu. Oft hatte es den Anschein als ob die Kehrichtwagen ausschliesslich Papier enthielten und bei windigem Wetter waren rings um die Ausladestellen weite Strecken des Witzwilgebietes mit Papier übersat.
Untergepflügt kam es zu einer nur langsamen Vergärung dieser lästigen Stoffe, was ungünstige Wirkungen auf das Pflanzenwachstum zeitigte. Aelteren Besuchern von Witzwil wird noch das Landschaftsbild in Erinnerung haften, wie sich die glitzernden Glasscherben und Glassplitter von der dunklen Mooserde unschön abhoben. Eine zu starke und zu rasch wiederholte Düngung der gleichen Bodenflächen gereichte mit der Zeit vielen Kulturpflanzen zum Schaden. Zu den mehr die Bodenbebauung beeinträchtigenden Faktoren kamen aber noch andere, die Fortführung der Kehrichtübernahme erschwerende Tatsachen. Seit der Einführung des schweizerischen Strafgesetzbuches 1942 wurden den Anstalten in Witzwil in vermehrtem Masse junge, nicht vorbestrafte Gefangene zugewiesen. Diese eigneten sich für den Kehrichtauslad nicht, oder ihre Zuweisung zu dieser Arbeit liess sich nicht verantworten.
Die Verwahrungsgefangenen, d.h. die prädestinierten «Ghüderer›› blieben nach und nach ganz aus. So war es denn die veränderte Zusammensetzung der Anstaltsbevölkerung, die schliesslich die Anstaltsleitung bewog, der Polizeidirektion zu beantragen. den Kehrichtvertrag mit der Stadt Bern auf den 31. Dezember 1953 zu kündigen. Seither erfolgt in Bern die Kehrichtverwertung auf dem Wege der Verbrennung.
Vor mehr als 60 Jahren gehörte es zu den gelegentlichen Obliegenheiten des Schreibers dieser Zeilen, einer Gefangenengruppe die Mittagsverpflegung an eine ausserhalb des Anstaltsgebietes liegende Arbeitsstätte zu überbringen: diese lag in La Tene, wo die Witzwiler damals unter der Leitung des Neuenburger Altertumsforschers Paul Vouga urgeschichtliche Ausgrabungen vornahmen. Wer weiss, ob nicht nach Jahrhunderten die dannzumaligen Archäologen Fundstücke aus der «Kerichtepoche›› von Witzwil zusammentragen und tiefsinnige Betrachtungen anstellen werden über die Kultur Berns im zwanzigsten Jahrhundert «im Lichte seines Ghüders››?
Dr. h. c. Otto Kellerhals, Bern