Das Güggelisloch

Von Kallnach folgen wir der Strasse nach Niederried, wo wir uns durchfragen zum Stauwehr. Entlang des Stausees geniessen wir die Riviera der Gemeinde Radelfingen, um nach knapp 3 km das Dörfchen Oltigen zu gewinnen. Blechkutschenführer müssen hier ihren geliebten Untersatz stehen lassen, denn die Höhe des Burgplatzes von Oltigen muss zu Fuss erstiegen werden. Wir biegen gleich nach der Wirtschaft rechts ab und erreichen nach wenigen hundert Schritten den ehemaligen Landungsplatz der Fähre. Sie ist erst vor wenigen Jahren eingegangen. Der Naturfreund steigt hier kurz auf den Damm oder geht ans Wasser, bevor er das Strässchen in Angriff nimmt, das gar steil zur Höhe kraxelt. Mancher Schweisstropfen kollert über Stirne und Backen, verkriecht sich im Nacken unter den Kleidern oder tröpfelt unbeachtet zwischen die Kieselsteine des Strassenbelages. Das Grossmüeti bekommt’s mit dem Schnauf zu tun, während die Jungen leichtfüssig bald hierhin, bald dorthin gümpelen.

Der Wald nimmt uns auf. Jetzt heisste es, den  versteckten Eingang zur Höhle, zum Gügggelisloch, nicht zu verpassen. Gegenwärtig ist das nicht problematisch; denn das Strässchen ist weiter vorn in die Tiefe gerutscht und gerade jenseits der Rutschstelle  müssen wir linkerhand ein Weglein entdecken, das steil abwärts direkt zum Höhleneingang führt. Wer eine ältere Dufourstrasse besitzt, sucht darauf zur Sicherheit den Namen „Güggelisloch“.

Vor dem Eingang ist Platz für unsere Rucksäcke, Kittel und den Regenschutz. Die Taschenlampen zünden hinein ins rabendunkle, geheimnisvolle Loch. Der ursprünglich ca. 2 m hohe Gang kann nicht mehr überall begangen, er muss bekrochen werden. Gefährlich ist das weiter nicht, wird doch die Durchquerung des Stollens immer wieder von den Buben als Mutprobe ausgeführt. Auf Wunsch von Bekannten habe ich einmal eine Gruppe welscher Schüler zum Güggelisloch geführt. Schüler um Schüler kroch langsam, zuerst reichlich vorsichtig, ins unbekannte Dunkel, die mutigsten voran, verkrampfte Angsthasen am Schluss. Bevor aber der letzte den Eingang praktiziert hatte, kamen die ersten schon wieder das Weglein herab. Sie hatten den ganzen Stollen durchkrochen, liegend, gebückt und stehend, vorn in der Fluh das Tageslicht wieder gefunden, um fast ein wenig waghalsig über den Berg zum Eingang zurückzukehren. Jetzt war alle Furcht verschwunden. Mit den Rückkehrern schlüpften die Ängstlichen ins Loch. Zehn Minuten später sassen wir oben auf der Kuppe, wo ich aus der Geschichte der Burg Oltigen erzählte, soweit sie mir bekannt und im Gedächtnis war. Als Dessert folgte die Sage vom bösen Ritter.

Kaum eine Viertelstunde flussabwärts der Stelle, wo Aare und Saane ihre Wasser vereinigen, stand ehemals am rechten Ufer auf der Runtigenfluh, rund 90 m über dem Wasserspiegel, die Burg Oltigen. Der Bieler Arzt E.Bähler hielt im Juni 1882 an der Jahresversammlung des Historischen Vereins einen Vortrag über die Herrschaft Oltigen. Seinen gedruckt vorliegenden Ausführungen ist zu entnehmen, dass schon damals, also vor 90 Jahren, kaum mehr Spuren von Mauerwerk zu entdecken waren. Von der einstmals berühmten Burg ist nichts mehr übrig geblieben, als der geheimnisvolle unterirdische Gang des Güggelisloches. Dieser Stollen führt quer durch den Felshügel und ist gute 50 m lang. Ehemals muss er eine Höhe von 2m aufgewiesen haben. Die aareseitige Ausmündung liegt ca. 60m über dem Wasserspiegel, die andere am Abhang des stillen Waldtälchens. In der Mitte des Ganges findet sich ein tiefes Loch, das aber gut umgangen werden kann. Über die Bedeutung dieser Anlage ist man sich absolut nicht im Klaren. Die einen sehen darin einen Notausgang aus der belagerten Burg, wobei zwei Fluchtwege möglich waren. Andere glauben, beide Ausgänge hätten sich innerhalb der Umfassungsmauern befunden. In diesem Falle wäre das tiefe Loch in der Mitte als Sod loch anzusprechen, als geschützten Wasserbezugsort. Heute findet sich allerdings kein Wasser in der Tiefe, vermutlich weil der grösste Teil des Loches ausgefüllt worden ist.

Die unerhört wechselvolle Geschichte der Herrschaft Oltigen lässt sich nicht in wenigen Zeilen dartun. Wann die Burg gebaut wurde, ist nicht bekannt. Im Jahre 1006 wird in den Urkunden erstmals eine Grafschaft Oltigen erwähnt. „Um 1050 erscheint ….. auf Oltigen der Name eines Gaugrafen Bukko als Vater zweier Söhne, deren einer, Kono, ihm in der gräflichen Würde folgte, der andere, Burkhardt, später auf dem bischöflichen Stuhl von Lausanne vorkommt“. Schreibt Bähler.

Irgendeinmal begann dann der Niedergang. Statt der Grafen finden wir Freiherren auf der Burg Oltigen. Dann kam die Zeit, in der die Herzöge von Zähringen und anschliessend die Grafen von Kiburg die Herrschaftsrechte ausübten und nur noch Ministeriale (Dienstmannen, Vögte) die Burg bewohnten. Selbst Raubritter scheinen hier einmal gehorstet zu haben. Von 1325 – 1350 finden wir den Ritter Johann von Oltigen, genannt „Wolfzahn“, und sein Vetter, Junker Johann, „der Snelle“ geheissen. Dieser letztere scheint ein ganz übler Kraut gewesen zu sein, jederzeit bereit zu räuberischen Überfällen, wobei ihm als Kumpan Peter von Lobsigen zur Seite stand. Gemeinsam überfielen sie im Jahre 1330 den Pfarrer von Courrendlin, den sie also bald ins Burgverlies von Oltigen warfen. Das Kloster Frienisberg musste Güter in Scheunenberg verpfänden, um die 400 Pfund Lösegeld aufbringen zu können. Vermutlich habenspäter die Mönche den alten „schnellen“ Haudegen und Wegelagerer Johann gehörig in die Zange genommen; denn auf dem Totenbett entschloss er sich zu frommen Vergabungen  an das Kloster Frienisberg.

In 50 Jahren hausten nicht weniger als 7 verschiedene Herren auf der Burg. Zuletzt gab Savoyen die Herrschaft Oltigen dem Hugo von Mümpelgard (Montbéliard) zu Lehen. Dem gelang es aber gar nicht, mit seinen deutschsprachigen Untertanen ein erträgliches Verhältnis herbeizuführen. Im Gegenteil! Die Spannungen steigerten sich ständig, bis es zur Entladung kam. Die erbosten Bauern rotteten sich vor der Burg zusammen und begannen sie zu stürmen. Als der Burgherr neugierig aus dem Fenster auf das Getümmel schaute, da traf ihn unversehens ein tödlicher Pfeilschuss. Die Aufständischen überwältigten die Besatzung und zerstörten die Burg.

Im Jahre 1412 kaufte die Stadt Bern um 7000 Gulden Burg und Herrschaft Oltigen. In den ersten Jahren diente wahrscheinlich die notdürftig wieder instand gestellte Feste den bernischen Vögten als Residenz, doch bald einmal wurde das ganze Gebiet auf die zwei bestehenden Landvogteien Laupen und Aarberg aufgeteilt. Die Burg zerfiel nach und nach. Wie an vielen andern Orten, so geschah es auch hier: Wer in Oltigen bauen oder umbauen wollte, der holte sich die nötigen Bausteine auf der Burgstelle. So ist es nicht verwunderlich, dass heute der Besucher vergeblich nach Mauerresten sucht.

Dem Gedächtnis des Volkes sind die wahren Begebenheiten längst entfallen. Um den Tod des Zwingherren und der Tatsache einer vom Volk zerstörten Burg hat sich ein vielfältiges Geranke aus Dichtung und Wahrheit geschlungen, das als Sage weitererzählt und unbewusst ausgeschmückt oder abgeändert wird.