1865: Kinder unter 7 Jahren dürfen im Kanton Bern nicht mehr in Zündholzfabriken arbeiten

An einem der so ganz unerwartet warmen und sonnigen Tage der Januar mitte 1974 blieb ich vor einem Kindergarten ein Weilchen stehen, um den Kindern zuzuschauen, die da. in übermütiger Freude tollten, rannten, kletterten, spielten - ein glückliches Völklein! Beim Weiterwandern erinnerte ich mich plötzlich, dass der Kanton Bern erst im Jahre 1865 verboten hat, Kinder unter 7 Jahren in den gefährlichen Zündholzfabriken zu beschäftigen. In allen übrigen Fabriken war Kinderarbeit auch weiterhin gestattet, und es wurde von dieser Möglichkeit auch ausgiebig Gebrauch gemacht. Den Kindern, die ich soeben verlassen, hätte also in der guten alten Zeit in Biel ein gar schändliches Schicksal zuteil werden können.

Um das hehre Bild unserer einheimischen Altvordern ja nicht zu trüben, wird in den für das Volk bestimmten Geschichtsbüchern der Schauplatz solch üblen Geschehens, wie es die Fabrikarbeit der Kinder darstellt, mit Vorliebe nach England verlegt oder doch wenigstens in den Kanton Zürich. Bei meinem Stöbern in der einschlägigen Literatur stiess ich denn auch zuerst auf eine sehr instruktive ~ um nicht zu sagen entsetzliche - Tabelle über die Beschäftigung von Schulkindern in Zürcher Spinnereien im Jahre 1813. Sie möge uns ein erstes Bild vermitteln vom Missbrauch der kindlichen Arbeitskraft, vom Raubbau an der Gesundheit der Kinder im Namen des Profits.

Im Ganzen Wurden in den 60 Spinnereien 1124 minderjährige Arbeitskräfte beschäftigt. Davon waren

48 = 7- 9 jährig 
284 = 10-12 jährig
654 = 12-16 jährig
138 = 16-18 jährig

So schlimm, sagte ich mir, kann es im Kanton Bern nicht gewesen sein, aber wie gross das Geschwür gewesen war, das wollte ich möglichst Wahrheitsgetreu wissen. Schwabs Arbeit über «Die industrielle Entwicklung der Stadt Biel» wies mir den Weg zu den «Amtsberichten des Regierungsstatthalters von Biel» (1834-1846), aufbewahrt im Bernischen Staatsarchiv.

Es ist nicht möglich, in dem für unsere heimatkundlichen Plaudereien üblichen Rahmen den Übergang von der Wirtschaftsforın des Ancien Regime zur Mechanisierurıg darzustellen. Wir halten einfach fest, dass als Folge der Mechanisierung eine gewaltige Intensivierung des Wirtschaftsprozesses möglich war. So konnte z. B. in Biel eine Indiennedruckmaschine nıit 2 Walzen im Jahre 1820 soviel produzieren wie 60 Handdrucker. - Der französische Gesandte Talleyrand schrieb 1822, seit 6 Jahren hätten sich in der Schweiz Webstühle wie Arbeiter um einen Viertel vermehrt, so dass man ganz Frankreich mit Baumwollgeweben versorgen könnte.

Aber es war nicht jedem bisherigen Produzenten möglich, die Mechanisierung mitzumachen. Nur der Kapitalkräftige konnte Maschinen anschaffen, Rohmaterialien einkaufen und auf Grund seiner Marktkenntnisse für den Absatz sorgen. Heimarbeiter, welche keine Maschinen kaufen konnten, waren nicht mehr konkurrenzfähig und mussten ganz einfach ihr Betrieblein aufgeben. Wollten sie den erlernten Beruf weiterhin ausüben, waren sie gezwungen, in einer Fabrik Arbeit aufzunehmen.

Wer wird hier nicht der Parallelen gewahr mit dem heutigen Geschehen auf dem Sektor Landwirtschaft, wo im Zusammenhang mit Mechanisierung und Motorisierung in kurzen Jahren Tausende von Kleinbetrieben eingingen und immer noch eingehen.

Nach dieser etwas umfangreichen Einleitung wenden wir uns jetzt dem Seeland und dort ganz besonders der Stadt Biel zu, welche um 1810 allerdings nur ein fast bedeutungsloses Städtchen mit etwa 2500 Einwohnern darstellte. Im Jahre 1747 war dort die Indiennedruckerei entstanden, welcher im Laufe der Zeit noch eine Weberei und eine Spinnerei folgte. Schon im Jahre 1809 wurde die Anschaffung einer Rouleauxdruckmaschine beschlossen und damit der Übergang zum Fabrikbetrieb
vollzogen. Zu dieser Zeit wurden in den Bieler Baumwollfabriken 1200-1500 Arbeitskräfte beschäftigt. Die gewobenen Baumwolltücher wurden in der Indiennedruckerei mit vielerlei Mustern bedruckt und danach in alle Welt exportiert. Schon früh gingen die Unternehmer dazu über, zuerst Frauen, später auch Kinder zu beschäftigen. Da schon die Maschinen teuer waren, wollte sich der Unternehmer nicht auch noch „teure“ Arbeitskräfte leisten. Deshalb mussten Frauen und Kinder die wenig Körperkraft erheischenden Maschinen bedienen. In der Indiennefabrik betrug der tägliche Lohn für Männer 5-20 Batzen, der Frauen 6½ - 7½ Batzen. Die Kinder erhielten 2 Batzen. In der Baumwollspinnerei erhielten die Arbeiter 12 Batzen, die Frauen 6 Batzen und die Kinder 3 ½ Batzen. Die Arbeitszeit bewegte sich um 12-14 Stunden, wobei kleinere Betriebe durchschnittlich eine Stunde länger arbeiten mussten, damit sie eher konkurrieren konnten.

Viele Arbeiten waren ja so „kinderleicht“, dass selbst Häfelischüler imstande waren, sie „mühelos“ zu bewältigen. Welche Qualen es aber für lebhafte Kinder bedeuten musste, sich jeden Tag 12-14 Stunden zwangsweise einer geisttötenden Beschäftigung hinzugeben, welche nie mehr gutzumachenden gesundheitlichen Schäden den bedauernsweıten Geschöpfen zugefügt wurden, das sah man damals kaum ein. Auf keinen Fall waren es die Unternehmer, welche hier Einsicht bewiesen. Für sie gab es in der ersten Hälfte des Jahrhunderts nur einen Gesichtspunkt: Das investierte Geld musste sich verzinsen, möglichst hoch verzinsen. Und doch hätte gerade ihnen, als einigermassen gebildeten Menschen, auffallen müssen, dass die Vertreter der ärmeren Schichten wie die Fliegen im Herbst dahinstarben. So entnehmen wir dem „Medizinal-Bericht“ des Statthalters von Biel für das Jahr 1840 folgende Angaben: In diesem Jahr starben in der Stadt Biel 20 Personen, welche vom Arzt behandelt worden waren und im Mittel 44 Jahre und 5 Tage alt geworden waren. Weitere 55 Stadtbewohner starben ohne ärztliche Behandlung. In der Mehrzahl waren es kleine Handwerker, Taglöhner und Fabrikarbeiter, alles Leute aus ärmeren Kreisen, die ein mittleres Lebensalter von nur 35 Jahren und 2 Monaten erreichten. Noch schlimmer war es in der Umgebung der Stadt, wo das Durchschnittsalter der 29 im Laufe des Jahres Verstorbenen 28 Jahre 3 Monate und 3 Tage betrug.

Ganz besonders gesundheitsschädlich scheint die Arbeit in der Indiennedruckerei, besonders in den Farbküchen, gewesen zu sein. Die Farbdünste und Dämpfe waren so angriffig, dass eine fahrbare Apotheke jederzeit bereitstehen musste. In der chemischen Bleicherei wurde den Leuten von den verschiedenen Säuren häufig die Füsse und Beine verbrannt und zerfressen.

Gewiss jedem Leser taucht hier die Frage auf, was für Arbeiten man denn so einem Kinde aufbürdete. In der Indiennefabrik unterstanden die Kinder nur indirekt der Fabrikleitung, Wurden aber mit deren Wissen und Willen beschäftigt. Die Knaben arbeiteten als „Streicher“ und zwar beim Drucker, einem Arbeiter also, Welchem vom Patron ein entsprechender Lohnabzug zugunsten des kleinen Helfers gemacht wurde. «Die Arbeit des Streichers bestand darin, die Farben gleichmässig in den „Chassis“ zu verstreichen, so dass die Handstempel sie gleichmässig aufnahmen.“Wahrscheinlich“, fährt Schwab weiter, «haben in früheren Zeiten die Handdrucker ihre eigenen Kinder zu dieser und andern kleinen Dienstleistungen herangezogen, mit blosser Genehmigung des Arbeitgebers; später hat sich ein bestimmtes Verhältnis zwischen Drucker und Streicher entwickelt, das letzteren zu einem bestimmten Anteil am Verdienste des ersteren berechtigte.››

Die zunehmende Mechanisierung hatte auch dem Drahtzug in Bözingen die Anstellung von Frauen und Kindern als billige Arbeitskräfte ermöglicht. Ein im Jahre 1818 aufgestelltes Fabrikreglement enthält folgende Bestimmung über die Arbeitszeit: Die Arbeit beginnt um 05.00 Uhr und dauert bis 19.00 Uhr. Im Sommer werden 2 halbstündige Essenspausen eingeschaltet, was bei der 13stündigen reinen Arbeitszeit durchaus am Platz und dringend nötig war. Zur Winterszeit ist nur eine Pause vorgesehen, da der Betrieb bei einbrechender Dunkelheit eingestellt werden muss. Der Arbeitsbeginn wurde durch ein Glockenzeichen verkündet. Von den übrigen Bestimmungen halten wir nur fest, dass denjenigen, welche mehr als eine Viertelstunde zu spät kamen, der halbe Taglohn in Abzug gebracht Wurde. Im Drahtzug Bözingen herrschte eine äusserst straffe Disziplin, die dort arbeitenden Kinder lebten also in einem frostigen Klima. Sie wurden neben andern kleinen Arbeiten hauptsächlich zum Sortieren und Verpacken der Stifte verwendet, Während die Frauen als „Frappeuses“ bei der Nagelfabrikation beschäftigt wurden.

Sehr viele Arbeitsmöglichkeiten für Kinder bot offensichtlich die Mechanische Baumwollspinnerei, welche im Jahre 1828 280 Arbeitskräfte beschäftigte, nämlich 75 Männer, 83 Frauen und 122 Kinder. Nur 2 Jahre später entstand in Biel die erste schweizerische mechanische Baumwollweberei, welche unter ihrer Belegschaft ebenfalls Kinder zählte.

Wir brechen unsere Untersuchungen hier ab. Es geht uns ja nicht darum, alle vor dem Inkrafttreten des eidg. Fabrikgesetzes in Bieler Fabriken arbeitenden Kinder zu erfassen, sondern um den Nachweis, dass es in Biel das tief beschämende Elend ebenso gab, wie im fernen Ausland oder in den Betrieben des berüchtigten «Spinnerkönigs» der Ostschweiz. Man darf sich wirklich fragen, ob denn niemand sich des Verbrechens bewusst wurde, das hier an der Schuljugend begangen wurde, jahrzehntelang?

Doch, es gab gottlob solche Menschen, die nicht angefressen waren von der „herzlosen Gleichgültigkeit, die zwischen Maschinen und Menschen keinerlei Unterschiede macht.“