Die Nachtigallen im Seeland
Wie viele Seeländer haben wohl schon eine Nachtigall singen gehört? Es wird nur ein kleiner Prozentsatz sein. Dabei kann jeder, welcher einigermassen gut zu Fuss ist und über ein richtig funktionierendes Gehör verfügt, sich diesen hervorragenden Ohrenschmaus verschaffen. Es ist dafür keine Expedition auszurüsten. Mit dem Ausdruck «Nachtigallenbummel» ist die erfreuliche Angelegenheit umfassend beschrieben, ist doch bloss eine kurze Fahrt mit Velo, Lokalbahn oder
Postauto vonnöten, falls man nicht der Ansicht huldigt, auch für die kleinste Ortsveränderung sei der blecherne Untersatz allein standesgemäss. Jedenfalls ist der Anmarschweg in den meisten Fällen kürzer als jene Strecke, welche der Seeländer ohne Wimperzucken für sein «Essen auswärts» dranzugeben gewohnt ist. Unser Seeland gehört nämlich zu jenen bevorzugten Gebieten, welche von der Sängerin der Nacht für Liebe, Hochzeit und Aufzucht der Jungen aufgesucht werden.
Gewöhnlich treffen die ersten Nachtigallen schon vor Mitte April im Seeland ein, nachdem sie eine Flugreise von rund 4000 km zurückgelegt haben. Sie überwintern nämlich im Gebiet südlich der Sahara und die Reise legen sie nicht in Scharen, sondern einzeln zurück, was im Hinblick auf die lange Einsamkeit allein schon als sehr beachtliche Leistung zu bewerten ist, eine Leistung, welche für manchen von uns einfach undenkbar wäre. Wieviele der ziehenden Vögel unterwegs zugrunde gehen, Unfällen erliegen, von Raubvögeln erbeutet oder von vögelifressenden Menschen als angeblicher Leckerbissen verspeist werden, entzieht sich unserer Kenntnis.
Die glücklichen, welche allen diesen Fahrnissen entrinnen konnten, erreichen fast unbeachtet unsere Gefilde. Eines Tages sind sie einfach da und bis am 1. Mai ist üblicherweise auch der hinterste Nachzügler bei uns eingetroffen. Der ungeduldige Seeländer möchte jetzt doch endlich wissen, wo denn die Nachtigallen ihre Standquartiere haben, welche Plätze sie vor allem lieben. Kurz gesagt:
Sie bevorzugen die Laubwaldungen der Ebene, Sträucher und Niederwald. Ganz besonders gerne weilen sie an diesen Orten, wenn die Gegend von Wassergräben und Giessen durchzogen ist. Baumlose Weiten, wie unsere seeländischen Kultursteppen gebietsweise darstellen, liehen sie. Wir dürfen also festhalten, dass wir am Neuenburgersee, am Murten- und am Bielersee, überall dort, wo Gesträucher und Heckendickichte vorhanden sind, auf Nachtigallen treffen werden. Sehr beliebt sind bei ihnen z. B. auch die Auenwälder an der Broye, der Zihl und der alten Aare, sowie der Fanelstrand und das Naturschutzgebiet im Dünenwald von Cudrefin Richtung Portalban.
Die seit altersgrauer Zeit hochberühmte Nachtigall trägt ein recht unscheinbares Kleid. Selbst das frühlingsfrische Hochzeitskleid lässt wenig zu rühmen übrig, wen wir nicht die Schutzwirkung der ganzen Anlegi als vortrefflich bezeichnen wollen.
In meinem alten Brehm wird das Vögelchen wie folgt beschrieben:
«Das Gefieder der Oberseite ist rostrotgrau, auf Scheitel und Rücken am dunkelsten, das der Unterseite licht gilblichgrau, an der Kehle und Brustmitte am lichtesten; die Schwingen sind auf der Innenfahne dunkelbraun, die Steuerfedern rostbraunrot. Das Auge ist rotbraun, der Schnabel und die Füsse sind rötlich-graubraun. Das Jugendkleid ist auf rötlich-braun-grauem Grunde gefleckt, weil die einzelnen Federn der Oberseite lichtgelbe Schaftflecken und schwärzliche Ränder haben. Die Länge beträgt 17, die Breite 25, die Fittichlänge 8, die Schwanzlänge 7 cm. Das Weibchen ist ein wenig kleiner als das Männchen»
Der längst verstorbene Aarberger Lehrer Hans Mühlemann gehört wohl zu den Pionieren in der Erforschung aller im Seeland lebenden und durchziehenden Vögel. Seine im Jahre 1927 erschienene Schrift: «Die Vögel des Seelandes» bietet dem feldstecherbewehrten Naturfreund noch heute eine leichtverständliche Anleitung zum Beobachten der einheimischen Vogelwelt. Was man selber lernen muss, das ist das Unterscheiden der verschiedenartigsten «Gesänge» und Rufe der einzelnen
Vögel. Dies seinen Fremden beizubringen, war ein wichtiges Anliegen Mühlemanns, trotzdem sein Tun von der Fachwelt abgelehnt wurde. Unsere Jugendjahre reichen noch in die Zeit zurück, da die meisten Fachgelehrten bezweifelten, dass man die Vögel je einmal nach dem Gesang, also nur mit dem Ohr, unterscheiden könne. Die begeisterten Berichte über unsere bei Laien neugelernten Kenntnisse stiessen häufig auf mitleidiges Lächeln. Die Berner Vogelkundler wurden spöttisch als «Rägemoliklub» betitelt und ihre Exkursionen ins Seeland als unzeitgemässe Naturschwärmerei verworfen. Trotzdem schlossen wir uns deren meist ganztägigen Scnntagsausflügen z.B. ins Gebiet von Ins-Witzwil oder Lyss-Aarberg und Lyss-Meienried begeistert und dankbar an, um unser bescheidenes Wissen zu mehren.
Wer einmal das Glück hatte, in einer milden Mondnacht dem Lied einer älteren Nachtigall zu lauschen, wird ihren Gesang nie mehr vergessen und zu seinem Staunen feststellen, dass sie auch am heiterhellen Tag zu lieden pflegt. So erlebten wir es vor einigen Jahren anlässlich eines Besuches der Tulpenfelder von Kerzers, dass von einem Buschwäldchen herüber eine Nachtigall unentwegt Strophe um Strophe ihres herrlichen Liedes erschallen liess, ohne sich von den wimmelnden Menschen und dem lärmigen Verkehr auf der nahen Landstrasse auch nur im geringsten stören zu lassen. Aus den vergangenen Kriegen weiss man, dass selbst Kanonendonner sie nicht schreckte.
Wohl zum geheimen Ärger mancher Leserin müssen wir darauf hinweisen, dass «die singende Nachtigall» ein Er ist. Nur das Männchen singt, auch wenn die Sprache behauptet: Die Nachtigall singt. Das Weibchen als Nichtsängerin pflegt das singende Männchen nur mit einem tiefen, knarrenden Ton «barr» vor nahenden Feinden zu warnen, sonst ist kaum je etwas von ihm zu hören.
Das Nachtigallenmännchen ist ein unvergleichlicher Künstler. Sein Lied umfasst über ein Dutzend einzelne, deutlich voneinander unterscheidbare Strophen. «Am schönsten ist das langgezogene Flöten in Wehmütigem Moll und crescendo. Ihr Repertoire ist sehr reich und vielfältig, ihre Triller, ihr Rollen, ihr tiefes Schlagen innig lockend, fast wie Schluchzen. Zwischen ihren Einlagen macht sie eindrückliche Pausen, vergleichbar einem Menschen, der wirklich etwas zu sagen hat. Der Zuhörer kann sich während dieser Pausen sammeln, der Genuss des Zuhörens wird dadurch erhöht. (Marianne Wegner)
Wenn in einem Bezirk nur mittelmässige Künstler festzustellen sind, dann handelt es sich durchwegs um junge Sänger, denen das Beispiel eines älteren Könners fehlt. «Am feurigsten tönt der Schlag, wenn die Eifersucht ins Spiel kommt,» lese ich im Brehm. «Dann wird das Lied zur Waffe, welche jeder Streiter bestmöglichst zu handhaben sucht. Während des ersten Liebesrausches, bevor noch das Weibchen seine Eier gelegt hat, vernimmt man den herrlichen Schlag zu allen Stunden der Nacht. Später wird es um diese Zeit stiller. Der Sänger scheint mehr Ruhe gefunden und seine gewohnte Lebensordnung wieder angenommen zu haben.»
In den letzten zwei Jahrzehnten scheint bei den Nachtigallen ein zahlenmässig deutlich feststellbarer Rückgang eingetreten zu sein. Gründe dafür sind das Reuten von Auen- und Buschwaldparzellen, die roh durch die Vogelparadiese gelegte Autostrasse, das Vorrücken der Kultursteppe und des ständig wachsenden Betondschungels der Dörfer und Städte. Konnten wir vor 30 Jahren in schöner Maiennacht auf dem Läubli sitzend dem unvergleichlichen Gesang der Nachtigallen lauschen, so trifft heute nur noch der über ganzen Landstrichen liegende Orgelton des Verkehrslärms auf unser Ohr. Das Schluchzen der Nachtigallen geht darin rettungslos unter.