«Laufbahn» eines blitzgescheiten Verdingbuben
Otto Räz erblickt am 24. Juli 1919 als fünftes von insgesamt acht Kindern in Frauchwil das Licht der Welt. Später zügeln seine Eltern nach Münchenbuchsee, wo sie einen andern Bauernhof als Pächter bewirtschaften.
1929, Otto ist zehnjährig, stirbt sein Vater. Mobiliar und Fuhrhabe der Familie Räz werden versteigert, Ottos Mutter hat noch ein Wohnrecht bei Verwandten in Dieterswil, wo sie als Magd arbeitet. Die acht Kinder werden unter den verwandten Räz und Rutsch-Familien verdingt. Otto kommt zu zwei ledigen Onkeln, die ebenfalls in Dieterswil einen Bauernhof betreiben. Für Otto beginnt eine harte Zeit: Kein Tag vergeht ohne Schläge; im Sommer heisst es um vier Uhr aufstehen und mit der Arbeit im Stall anfangen. Otto arbeitet wie ein Knecht, den ganzen Tag über. lm Winter beginnt das Tagwerk etwas später, gegen sechs Uhr. Der eine Onkel trinkt manchmal ein Glas zu viel und ist etwas böse. Dieser «bauert». Der andere Onkel dagegen trinkt nur am Sonntag ein Bier, spielt etwas Karten, macht den Stall. Obwohl die Mutter im gleichen Dorf wohnt, kann Otto Sie kaum sehen, er muss arbeiten.
Otto ist ein blitzgescheites Kind. ln Dieterswil darf er im Rechnen zu den Bienen von Lehrer Räz schauen, da er dem Unterricht ohnehin folgen kann. Er schafft ohne Probleme den Übertritt in die Sekundarschule, wo er bei Herrn Friedli und Herrn Michel zur Schule geht, Otto geht sehr gerne in die Schule. Schule bedeutet für ihn «Ferien», Erholung! Wenn er etwas in der Schule hört, dann weiss er es, Er hat zwar nie Zeit, um Aufgaben zu machen; jeden Morgen muss er den Weg von Dieterswil nach Rapperswil rennen, so spät lässt man ihn von Zuhause ziehen. Mit seiner Intelligenz schafft er es aber, einer der Klassenbesten zu sein. Bei einem Examen versammelt sich die ganze Schulkommission hinter ihm, um seine fehlerfreie Schreibweise zu bewundern. Er sagt von sich, er habe viel gelernt, nur Singen habe er nie gekonnt, Otto ist der Kleinste in seiner Klasse, hat aber im Allgemeinen ein gutes Verhältnis zu seinen Schulkameraden. Allerdings kommt er sich oft minderwertig vor. Aus dieser Zeit erzählt Otto folgendes Müsterchen: «Räz Hermann, der Sohn des Lehrers von Dieterswil, hat einmal einem Mitschüler einen Schneeball mitten ins Gesicht geworfen. Hermann ist zwar ein langer Schüler gewesen, aber nicht ein starker. Marti Otti dagegen war ein kleiner starker Kerl, er ist später Schwingerkönig geworden! Hermann ist aus Furcht vor Otti drei Tage nicht mehr in die Schule gekommen»
1935, als die Schulzeit zu Ende ist, bekommt Otto ein makelloses Zeugnis: Alles Einer, Bestnoten bis auf eine 1,5 in Schreiben/Buchhaltung. Zwar hätte Otto gerne wie sein Bruder studiert, aber es findet sich kein Geldgeber. Von den Onkeln, bei denen er verdingt ist, kriegt er nach sechs Jahren Arbeit 50 Franken und geht nach Bevaix ins Welschlandjahr zu einem Weinbauern. Die Familie ist sehr wortkarg, weder bei Tisch noch bei der Arbeit wird viel geredet. Otto lernt daher kaum Welsch, dafür unterhält er sich abends mit andern Deutschschweizern gut.
1936 beginnt er eine Lehre als Käser in Lüterswil, auf der benachbarten Bucheggberg. Er hat einen ganz guten Meister ebenfalls einen Räz, allerdings keinen Verwandten. In den ersten sechs Monaten gibt Otto einen Franken für die Niederlassungsbewilligung aus, der Rest wird gespart. Ottos Monatslohn beträgt 30 Franken. Nach sechs Monaten kauft er mit dem ersparten Geld ein Velo, ein gelb-blaues Cosmos mit Rücktritt. Jetzt kann er seine Mutter in Dieterswil besuchen und zur Berufsschule nach Aarberg fahren.
Es folgt ein Lernjahr in Walkringen bei Baumgartners, ebenfalls eine gute Stelle. Das letzte Lernjahr verbringt er in Schwanden bei Schüpfen. Das Ende der Lehre fällt auf das jahr 1939 Otto muss in die Rekrutenschule nach Colombier. Obschon er gerne hätte Radfahrer werden wollen, wird er in die lnfanterie zu den «Muttestüpfer», wie er sagt, eingeteilt. Bis 1945 leistet Otto im Winter Dienst in der Armee in Le Locle, im Sommer ist er dispensiert, um seiner Arbeit als Käser nachgehen zu können
Der Militärdienst ist gezeichnet durch Langeweile, Nichts-tun, Querelen mit den Vorgesetzten. Otto wehrt sich, er ist unbeliebt bei den Chefs, bei den Kameraden dagegen geschätzt.
1945 wird Otto Lohnkäser in Schwanden. Er arbeitet dort bis 1964, verheiratet sich mit einer Bauerntochter aus Schwanden,die beiden haben fünf Kinder. Otto verlebt eine gute, glückliche Zeit in Schwanden; 1958 macht er das erste Mal Ferien auf der Moosegg. Er bekommt so starke Rückenschmerzen vom Nichtstun, wie er sagt, dass er froh ist, als er und seine Frau nach einer Woche die Ferien beenden können.
1964 verkaufen die Bauern in Schwanden ihre Kühe. Otto Räz wechselt die Stelle. Er wird unter 34 Bewerbern auf eine Stelle aIs Milchkäser in Detligen gewählt. Bis 1979 arbeitet er dort, dann übernimmt sein Sohn die Käserei.
im Frühling und Herbst trifft sich Otto jeweils mit seinen vielen Geschwistern in Dieterswil oder in Frauchwil. Fast der wichtigste Tag in seinem jetzigen Leben, wie er sagt.
Der Bericht wurde nach einem Gespräch im August 2002 von Bernhard Siegehthaler, Rapperswil,aufgezeichnet.